Artur
»Wo der Tatort wohnt«


Die Tatorte des Südwestdeutschen Rundfunks – Ludwigshafen, Konstanz und Stuttgart – wohnen alle unter einem Dach. In einem Haus in Baden-Baden.


Manchmal schaut Tatort-Kommissar Bootz in der Wohnung seiner Kollegin Lena Odenthal vorbei. Dann geht er die Treppe vom Stuttgarter Präsidium hinunter, biegt am Flur des Präsidiums Konstanz links ab. Und zack, steht er in der Wohnung in Ludwigshafen. Das Zimmer ihres Mitbewohners und Kollegen Kopper hat keine vierte Wand, sondern ist zum Flur hin offen. Vor dem Schlafsofa ist heute das Catering für das Drehteam aufgebaut. Bootz beißt von einer Banane ab. Dann ruft das Walkie-Talkie, das neben der Kaffeemaschine liegt, zur Probe nach oben. Nach Stuttgart.

„Da ist Stuttgart“, sagt Produktionsleiterin Andrea Pfeifer und lacht, „wir sind im Film!“ In Wirklichkeit steht sie in der Baden-Badener Cité, einem ehemaligen französischen Kasernengelände, in einem gesichtslosen Bau von ungesundem Gelb. Zu Drehzeiten aber strahlt er im Licht der Scheinwerfer, lässt sich vom Glanz des Films den Staub aus den Fluren polieren. Unter einem Dach sind hier die Präsidien der SWR-Tatorte untergebracht: ganz oben Stuttgart, darunter Konstanz und die Wohnung Deutschlands ältester TV-Kommissarin Odenthal, darunter ihr Präsidium und ganz unten Pathologie und Verhörräume für alle.

Wohngemeinschaft für Kommissare

Andrea Pfeifer steht vor dem Konstanzer Flur mit Luftbildern vom Bodensee an den Wänden. „Im Zeitalter der Gebührendiskussion lässt man das Team aus Baden-Baden nicht unnötig weit fahren und übernachten“, flüstert sie, um den Dreh oben nicht zu stören, „deshalb sind auch alle Kommissariate hier aufgebaut.“ Die blonde Stuttgarterin mit Brille und buntem Halstuch verströmt selbst mit gesenkter Stimme Energie für zwei. Oder besser für 40, ist sie doch so eine Art Berufsmutter des Teams, hat Einfluss auf Drehbuch und Regie, regelt Verträge, Drehtage, Sicherheitsfragen und Ruhezeiten. Rund 1,3 Millionen Euro kostet ein Tatort. 24 Tage dauert der Dreh. Nicht nur die Optik bestimmt, sondern auch das Budget. „Letztens sollte das Auto von Kommissar Lannert von einem Parkdeck stürzen“, erzählt Andrea Pfeifer, „allein die Baumaßnahmen hätten 10 bis 15 Tausend Euro gekostet. Wir haben es dann anders gedreht.“

Wichtig ist, dass jeder Tatort eindeutig zu verorten ist, sowohl bei Außenaufnahmen, als auch bei den Requisiten innen. „Stuttgart erkennt man an der topografischen Lage und Konstanz auch, Ludwigshafen ist schon schwieriger“, sagt Andrea Pfeifer und schiebt sich an der Kaffeemaschine vorbei in Lena Odenthals Wohnung, „aber bei allen Sets hier drinnen errät man sofort, wo man ist“. So säumen Fotos der Städte die Gänge, Aktenmappen sind gut sichtbar gestempelt, ein Zettel des Stuttgarter Musikkorps prunkt oben an der Pinnwand. Als Stuttgarterin ist Andrea Pfeifer besonders penibel mit ihrem Lieblingstatort.

Drei Städte unter einem Dach – und eine eigene Welt

Vom Set oben, wo hochkonzentriert eine Szene geprobt wird, Lampen und Kamera perfekt ausgerichtet sind, ist Lena Odenthals Wohnung viel weiter als nur eine Treppe entfernt. Die Luft steht, es ist etwas staubig und still. Auch wenn Kaffeeduft in die gemütliche Küche mit den Nudel-Gläsern gezogen ist – seltsam träge liegt sie da im Licht der schräg durch die Jalousie fallenden Sonne. Ebenso das Schlafzimmer mit dem Katzenkörbchen am Bett und den abgehängten Bildern auf dem Boden. Alles mutet an wie ein altes Wohnhaus, das längst nur noch für die Ferien besucht wird. Wäre da nicht dieser kleine dunkle Raum mit Pritsche. „Hier“, sagt Andrea Pfeifer, „haben wir eine Gefängniszelle.“

Es sind nicht nur drei Städte unter einem Dach, es ist eine eigene Welt: Die Tür, die im Film zu Lena Odenthals Bad führt, geht in Wirklichkeit in eine Rumpelkammer, die Treppe vor ihrem Eingang ins Nichts, das Holzgeländer verschwindet nach oben hin einfach in der Decke. Einzelne Ausschnitte im Film sind oft enger, als der Zuschauer sie im Zusammenhang mit den anderen Bildern empfindet.

„Manchmal gehe ich das Drehbuch durch“, sagt Andrea Pfeifer, „und weiß gar nicht mehr, wo genau jetzt eine Tür war.“ Es ändert sich nämlich immer wieder etwas, erzählt sie, während sie zur Ludwigshafener Dienststelle geht. Koppers Kaffeemaschine steht natürlich immer hinter seinem Schreibtisch, aber manchmal will ein Regisseur eine neue Wandfarbe oder mehr Licht. „Jede Etage, jede Stadt hat überdies ihre eigene Architektur“, sagt Andrea Pfeifer und deutet auf die Betonträger und den braunen Teppich im Ludwigshafener Flur. Mit den grauen Aktenschränken und der Decke in Holzfurnier entsteht echtes Behördenflair der Nachkriegsjahrzehnte.

Die Pathologie im untersten Stock ist ein typischer Keller, niedrige Räume hinter einer Metalltür, dicke Lüftungsrohre, Kunststoffboden und Neonröhren. Edelstahlbahren und Regale mit Reagenzgläsern stehen herum, zur Linken der Leichenschrank, von dem allerdings nur zwei Türen aufgehen. „Das ist alles Originalmaterial“, erklärt Andrea Pfeifer. Gebraucht gekauft. Auf einem Tisch liegt ein Dummy, eindeutig tot. „Eine Spezialanfertigung mit beweglichen Gelenken“, sagt Andrea Pfeifer, „man kann keine Schaufensterpuppe nehmen, wenn es echt aussehen soll.“ Wenn sie nicht gerade irgendwo herunterfallen müssen, spielen Komparsen die Leichen. Das sieht noch echter aus.

Ganz oben in Stuttgart herrscht Altbau-Atmosphäre, weite, helle Räume mit weißen Kassettenelementen, dazu Parkett. Die Staatsanwältin murmelt ihren Text vor sich hin, der Kamerawagen rollt in Position. Kommissar Bootz geht durch sein Büro zum nächsten Bild. „Ich mag es nicht, wenn mein Schreibtisch so mittendrin steht“, sagt er und blickt skeptisch auf den Schreibtisch. Den hat irgendwer in der großen Film-WG mal wieder ohne sein Zutun wandern lassen.


Erschienen in Artur, 2013.❦

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