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»Tatort hoch drei«


Dies ist die Geschichte eines Tüftlers aus der Pfalz, der eine neuartige Kamera entwickelt hat. Im Vertrauen darauf, dass seine Kunden interessante Anwedungen dafür finden.
So wie die beiden Italiener, die damit die Kriminalistik revolutionierten.


Die 11, das ist die Blutspur. Peter Daldos berührt mit der Maus die Kennnummer und zoomt den blauen Teppichboden heran. Ein belangloses Bild wie aus einem Baumarkt-Katalog – wären da nicht diese dunkelroten Flecken. Nun zeigt er mit einer Drehung das ganze Zimmer. „Aber ich seh’ keine Leiche!“, ruft der Richter Cuno Tarfusser, der ebenfalls mit auf den Monitor schaut. Daldos schwenkt zum Eingang, wo sich die Blutspur fortsetzt. Sein Kompagnon Gerd Miribung erinnert Tarfusser daran, dass sich der Verletzte noch weggeschleppt hat. „Ah ja, zur Leiche wurde er erst später“, murmelt der Richter mit der ironischen Distanz, die berufliche Nähe zum Tod oft mit sich bringt.

Daldos und Miribung haben die Bilder des Tatortes 2002 aufgenommen. Es war ihr erster Einsatz, eine Beziehungstat – und sie waren heilfroh, dass es keine Leiche gab. „Das Herz hat trotzdem bis hier oben geschlagen“, gibt Daldos zu. Es sind zwei zurückhaltende Männer, beide Jahrgang 1975, die da am Tisch in der Staatsanwaltschaft Bozen vor Aktenschränken sitzen und sich Blutlachen und Tote anschauen, alle diese gruseligen Motive von ihnen selbst fotografiert.

Mit ihrer Firma 3D-Pixel haben die beiden ein neues Geschäftsfeld entdeckt, von dem Peter Daldos noch nichts ahnte, als er sich am Ende seines Geschichtsstudiums fragte, wieso Archäologen ihre Ausgrabungen nicht mit 360-Grad-Fotos dokumentieren. Gemeinsam mit Gerd Miribung, der früher städtischer Angestellter war, begann er, sich über eine neue Art der Fotografie zu informieren.

Tiefere Einblicke in die dazu notwendige Kameratechnik hatten die beiden nicht – nur eine Ahnung, wie man sie anwenden könnte. Das wiederum machte die Südtiroler zu idealen Partnern der Firma Spheron VR. Der nur bei Fachleuten bekannte Kamerahersteller im pfälzischen Waldfischbach-Burgalben nahe Kaiserslautern hat überall auf der Welt Vertriebspartner wie 3D-Pixel, die lokale Märkte erschließen. Und nutzt konsequent die Ideen von Kunden für die Weiterentwicklung seiner Produkte. So auch bei der Tatort-Analyse.

Gerhard Bonnet, der Firmenchef, ist mit dieser Methode von Anfang an gut gefahren. 1997 besuchte der Physiker ein Existenzgründerseminar der Technischen Universität Kaiserslautern. Dort traf er einen Fotografen, der von einer digitalen 3D-Kamera träumte – und zu seinem ersten Kunden wurde. Mithilfe eines Stipendiums fertigte Bonnet einen Prototypen und stellte ihn mit den letzten paar Mark, die er übrig hatte, auf der Photokina aus. Weil die Resonanz der Messebesucher euphorisch war, ließ Bonnet seine Promotion sausen und wurde Unternehmer. Heute ist er – nicht zuletzt dank seiner umtriebigen Kundschaft – drei Kamera-Generationen und ein paar Millionen Euro Jahresumsatz weiter.

Das Ergebnis all der Mühe, die sogenannte Scenecam, sieht unspektakulär aus. Mit ihren runden, schwarzen LED-Lampen und dem Objektiv dazwischen erinnert sie ein wenig an Micky Maus. Leise sirrend dreht sich der Apparat auf dem Stativ um die eigene Achse. Im Display ist ein dunkler Balken zu sehen; er wird langsam schmaler, dann verschwindet er und gibt den Blick auf die 360-Grad-Ansicht des Motivs frei. Dafür braucht es: einen Knopfdruck und zweimal 7:45 Minuten Zeit. Unabhängig von externen Licht- und Stromquellen scannt die Kamera jeden Ort in 26 Blendstufen, um alle Kontraste und somit Details korrekt abzubilden. Zweimal blickt sie aus ihrem Fischauge in verschiedene Höhen, um hinterher die Lage aller Objekte im Raum berechnen zu können.

Ein Traum für Richter, ein Albtraum für Übeltäter

Daldos und Miribung nutzten sie zunächst, um archäologische Fundstätten, Hotels und Yachten abzulichten. Dann fiel ihnen eine weitere Anwendung der vollsphärischen Fotografie ein: die Dokumentation von Tatorten. Um dorthin zu kommen, brauchten sie allerdings einen Verbündeten mit den richtigen Kontakten in der Justiz. Sie fanden: Cuno Tarfusser, damals Chef der Staatsanwaltschaft Bozen, heute Richter am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Er war als jüngster leitender Staatsanwalt Italiens ins Amt gekommen und „relativ mobil mit meinem Kopf“, wie er über sich selbst lachend sagt.

Beim Blick auf Daldos’ Yacht-Fotos sah er die Zukunft der Forensik, also der Analyse und Aufklärung von Straftaten. „Das könnte unsere Arbeit nicht nur erleichtern, sondern verbessern: Man sieht alles und kann es dem Richter zeigen.“ Auch nach Jahren könnten sich die Ermittler noch auf Spurensuche begeben. „Das ist schon ein Wahnsinn.“

So bahnte er den 360-Grad-Fotografen den Weg zu den Orten von Kapitalverbrechen und stimmte alles Notwendige mit den Carabinieri ab, deren Erfahrungen in das Dokumentationssystem einflossen. Tarfusser sorgte auch dafür, dass 3D-Pixel als Privatfirma seither jeden Mord in Südtirol dokumentiert, mit Schweigepflicht versteht sich.

Mittlerweile bieten Daldos und Miribung die Kamera zum Stückpreis von rund 60 000 Euro auf dem italienischen Markt an. Zudem kann man das Team mit Kamera für ein paar Tausend Euro Tagessatz buchen. Diese Dienstleistung macht den Löwenanteil ihres Umsatzes von 300 000 Euro aus. Was sich aber schnell ändern könnte, wenn die italienischen Behörden, beschlössen, sich eigene Kameras anzuschaffen.

Spheron VR hat speziell für diesen Kundenkreis ein eigenes Erfassungssystem entwickelt. Die Software erlaubt es, Spuren im Kontext der Umgebung zu betrachten, zu vermessen und alle Informationen zu archivieren. „Jeder kann sich selbst einen Eindruck vom Tatort verschaffen, sich intuitiv eine Vorstellung machen, was dort zum Beispiel für ein Mensch gelebt hat“, sagt Bonnet. „Das ist natürlich für Richter, Staatsanwalt und Zeugen ein Traum.“

Die kluge Kamera eignet sich noch für viele weitere Zwecke überall dort, wo es darum geht, Räume und Objekte exakt dreidimensional zu erfassen und darzustellen. Die neueste Geräteversion bietet den Kunden die Möglichkeit, sie für ihre individuellen Zwecke zu konfigurieren. Bonnet vergleicht seine Systeme gern mit Schweizer Taschenmessern, deren einzelne Werkzeuge nach Bedarf ausgeklappt werden können.

Einige Einsatzgebiete sind so brisant, dass der Chef nicht einmal das Land nennen mag, in dem der betreffende Kunde sitzt. Denn auch das Militär und Sicherheitsunternehmen – die mit der Technik Einsätze simulieren, trainieren und dokumentieren können – gehören zu den Nutzern.

Lieber redet der Tüftler über andere Branchen wie etwa die Filmindustrie oder Werbeagenturen. Die Anwendungen dort findet der vielseitig interessierte Bonnet, der während seines Studiums eigene künstlerische holografische Arbeiten geschaffen hat, ästhetisch anspruchsvoller. Er zeigt auf das Bild eines Autos, das am Computer erzeugt und in ein Landschaftspanorama gesetzt wurde. „Fotografie ohne Motiv – das ist schon arg.“

Egal, für welche Einsätze, alle Kameras werden in Waldfischbach-Burgalben in dreiwöchiger Handarbeit zusammengesetzt, auf Resistenz gegen Erschütterungen, Hitze und Kälte geprüft und justiert. Am Ende sind sie robust verpackt in schwarze Koffer, kaum größer als dicke Aktentaschen, auch dies übrigens eine Kundenidee. Im Heck des Firmenwagens von 3D-Pixel liegt neben Regenschirmen immer ein Set bereit, genauso wie heute auch im deutschen Bundeskriminalamt und den meisten Landeskriminalämtern.

Spheron VR lebt inzwischen ganz gut von seiner Erfindung. Die Firma, die in einer Studenten-Wohngemeinschaft gegründet wurde, hat sich mittlerweile auf 900 Quadratmetern ausgebreitet und beschäftigt 20 Mitarbeiter. Nach Bastelstube sieht es immer noch ein wenig aus; kein Montageplatz gleicht dem anderen.

Die famose Kamera als Star: in der Italo-Variante von CSI

„Hauptsache, die Qualität stimmt“, sagt Gerhard Bonnet und schaut lächelnd über seine Brille. Jetzt sieht er aus wie ein Bilderbuch-Erfinder, irgendwo zwischen Doctor Snuggles und Peter Lustig, bloß jünger. Dem 44-Jährigen gehen schon neue Entwicklungen durch den Kopf, über die er aber nichts verraten will. Nur so viel ist ihm zu entlocken: „Ich habe mehr Ideen als Zeit.“

Um die 500 Kunden hat er weltweit. Die Technik hat ihren Preis, macht sich aber für viele bezahlt, besonders in der Kriminalistik. Selbst erfahrene Ermittler können am Tatort nicht wissen, welche Details später wichtig werden, wenn die Untersuchung neue Erkenntnisse hervorbringt -oder neue Fragen wie beim spektakulären Biker-Mord von Lana bei Meran.

Es war eine Septembernacht 2003, als man Daldos und Miribung zu einer Kreuzung in Lana rief. Ein schwarzes Auto stand mitten auf der Straße, daneben lag ein Toter auf dem Asphalt. Jetzt, auf dem Bildschirm, durchschneidet eine gelbe Linie die Szenerie: an einem Ende das Opfer, am anderen eine Patronenhülse. Entfernung: 1,62 Meter. Es war das erste Mal, dass die 3D-Fotografen Abstände messen konnten. Das erste Mal auch, dass das Ergebnis in Italien vor Gericht als Beweis galt. Eine gute Gelegenheit für die beiden, zu zeigen, was möglich ist.

Wie weit er vom Opfer entfernt gewesen sei, fragte der Richter später in der Verhandlung den Tatverdächtigen. Zuerst musste dieser schätzen und seine Position auf dem Panoramabild angeben. Dann wurde der Abstand errechnet. „Die Aussage war auf der Stelle revidiert“, sagt Daldos. Aber noch passten der Ort, an dem der Schütze stand, und der Einschlag des Projektils nicht zusammen. Auch hier lieferte die Kamera das fehlende Puzzleteil. „Auf einmal hat man oben am Dach des Autos eine Spur des Projektils gesehen“, sagt Tarfusser, „dort musste es abgewichen sein.“

Solche Fälle sprechen sich herum. Mittlerweile werden sie von Kunden mit ganz unterschiedlichen Anliegen gerufen. Die Kamera hat es inzwischen selbst zu einiger Berühmtheit gebracht. Sie war sogar in „Delitti imperfetti“ zu sehen, dem italienischen Pendant zur Serie „CSI“. „Aber so etwas“, sagt Daldos, „kann man nicht mehr schauen, wenn man weiß, wie es in Wirklichkeit ist.“


Erschienen in Brand eins, 2011.❦

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