Der Freitag
Die große Bau-Schau

Baustellen wie der Flughafen Schönefeld ziehen Schaulustige an. Bei der Bahn sind es Pufferküsser, auf Flughäfen Plane-Spotter, aber wie nennt man die Baustellen-Freaks?

Der Wind ist laut in 32 Metern Höhe und weht gegen jedes Wort an. Aber es wird ohnehin nicht viel gesprochen auf dem Aussichtsturm des Flughafens Berlin Brandenburg International (BBI). Zwei Paare Mitte 50 gucken entrückt über die hellbraune erdige Fläche mit Baustellenfahrzeugen und  Rohbauten, auf der die Schatten der Wolken Muster bilden. Mit Handy vor dem Gesicht schreitet ein Mann alle Punkte seines Audioguides ab und macht jeweils ein Foto. Ein Vater hat seine drei Kinder um das Stand-Fernglas versammelt. Die Tochter sitzt auf der dicken Metall-Brüstung und starrt auf die bunten Kräne in der Ferne. „Guck mal, mindestens 100!“, meint sie. „30“, sagt der Vater. Vor gut einem Jahr wurde der Infotower eingeweiht. Längst gibt es Führungen und Bustouren, sogar nachts.  150.000 Gäste waren schon da, bis 5.000 am Tag – extra für die Baustelle. Denn niemand fährt zufällig die Straße entlang, die hinter dem jetzigen Flughafen abrupt am Turm im Staub endet.

Angefangen hat der professionelle Baustellen-Tourismus Mitte der neunziger Jahre in Berlin mit der „Red Box“, dem Info-Kasten auf dem Potsdamer Platz. Bis dahin gab es derart riesige Baustellen in der Stadt nicht. „Seitdem wird die Baustelle oft als Spektakel inszeniert und mit ihr die Arbeit“, sagt Marie Antoinette Glaser, Kulturwissenschaftlerin im Fachbereich Architektur an der ETH Zürich. Sie hat ein Buch über das Faszinosum Baustelle herausgegeben. Viele beteiligte Firmen und Städte sähen die Baustelle als Visitenkarte. Beispiel Hamburger Hafen-City, wo die Stadt auf der Großbaustelle für ihr neues Viertel wirbt. Oder „Stuttgart 21“: Das nach Eigenangaben wichtigste Bahn-Projekt, die Bau-Arbeiten an der Strecke Stuttgart-Ulm, beginnt 2010 und soll sich über neun Jahre hinziehen. Man will „das neue Herz Europas“ schaffen, keine hässliche Wunde im Stadtbild. Die Marketing-Agentur der Stadt Stuttgart erwartet 50.000 Übernachtungen mehr, und die Hotels werben mit dem Blick auf die Baustelle. Im Arcotel Camino gibt es das Zimmer „Schaustelle“ mit Fernglas – noch können sich Gäste nur den Bau der Bibliothek angucken, aber bald wird an der Bahn selbst gebaut. Was früher ein Grund für Rabatte war, ist nun eine Attraktion.

Dabei macht gerade das Unfertige, Wirre im sonst perfekten Stadtbild auch den Reiz einer Baustelle aus. „Am Anfang ist es das Loch, das die Leute anzieht, das Aufgewühlte“, erklärt Glaser, „dazu kommt die Dynamik der Maschinen.“ Sie sind größer und mächtiger als die Maschinen, mit denen die meisten im Alltag zu tun haben, und demonstrieren eindrucksvoll ihre Gewalt. Ähnlich wie der Zirkusgänger von der Gefahr angezogen wird, die dem Tiger-Dompteur droht, ist der Baustellen-Gucker von Pressluft-Hammer und Ramme fasziniert.

Der dreieckige Infotower in Schönefeld hat nichts von einer Baustelle. Er ist stylisch in transparent-weiße Plane gehüllt, frei von Unrat, Staub und jeder Gefahr. Schilder verbieten zu essen, zu rauchen und Gegenstände auf der Brüstung abzulegen. Bauarbeiter trifft man hier nicht. Baustellen-Guide Michael Dorn trägt eine Anzughose und Hemd mit passender Krawatte. Er führt bis zu 100 Schaulustige am Tag über die Baustelle. Gerade kommt er mit einer Busladung Jugendlicher die Treppe hoch, kurz herrscht Trubel auf dem Turm. „Bei so einem Areal müssen die Sicherheitsregeln besonders streng sein“, erklärt er auf die Frage, warum man nicht essen und bei der Bustour nicht aussteigen dürfe. Schließlich ist Schönefeld die größte Flughafenbaustelle Europas: 1470 Hektar, 2000 Fußballfelder, fünf mal drei Kilometer oder 8166 Eishockeyfelder misst sie, führt Dorn seine gut gelernten Rechen-Beispiele scherzhaft vor. „Gigantisch, was sich hier bewegt“, sagt eine Frau zu ihrem Mann. Doch die Baustelle, die aus der Nähe etwas von einem Wimmelbild Marke Ali Mitgutsch hat, sieht aus dieser Höhe geradezu ordentlich aus. Sie ist so weit weg, dass die Bewegungen der Lastwagen, Bagger und über 30 Kräne ruhig und harmonisch wirken. „Wie sich in dem riesigen Gelände alles zusammenfügt“, sinniert die Frau, „kaum zu glauben, dass da ein Bauleiter ist, der den Überblick behält.“ Die Baustelle führt vor, wie aus dem Wirrwarr an Geräten, Sprachen und Geräuschen ein Werk wird. Zuerst wird die Erde aufgerissen, um nach und nach eine andere Form zu bekommen. Es entsteht etwas Neues, was der Zuschauer angesichts des Tohuwabohus kaum für möglich hält. „Die Baustelle vermittelt Machbarkeit“, sagt Glaser. Schon Kindern ist das Gefühl bekannt, sie scheinen besonders fasziniert von dem Treiben auf dem Bau. Ihr Held, Bob der Baumeister, singt direkt in der Titel-Melodie der gleichnamigen Kinderserie vom Versprechen der Baustelle: „Yo, wir schaffen das!“ oder „Yes, we can!“ – eine Formel, die ja auch bei Erwachsenen funktioniert.

Und viele haben schon in geduldiger Arbeit einen Haufen Legosteine zu einem ansehnlichen Gebilde zusammengesetzt - oft, um es nach Fertigstellung abzureißen. Wenn das Werk steht, erlahmt oft auch das Interesse. Das Versprechen, dass sich noch etwas ändert, gehört mit zum Reiz des Unfertigen. Das lässt sich bei vielen Baustellen beobachten, besonders im Verkehr: Wenn beim Umbau der Wuppertaler Schwebebahn seit den neunziger Jahren große Teile des Gerüsts oder der Brücken ausgetauscht wurden, standen oft noch nachts Schaulustige am Straßenrand. Ordentlich verschweißt, war die Sache schlagartig nicht mehr so interessant. Genauso ist es mit neu errichteten Büro-Vierteln: Auf den Baustellen ist mehr los als in den fertigen, womöglich nur halb vermieteten Komplexen.

Die ständige Veränderung wird auch im Internet dokumentiert. Eine private Internetseite begleitet zum Beispiel seit 2005 den Bau des City-Tunnels in Leipzig und bringt die schönsten Fotos als Kalender heraus. Der Baustellen-Gucker kann so Anteil am Werk nehmen, wird zum Experten. Auch die Besucher auf dem Infotower klären, wo Abflug- und Landebahn sind, und welche Vor- und Nachteile es gibt. Einige waren schon hier, als man noch nichts sah, und bringen sich seitdem immer wieder vor Ort auf den neuesten Stand. Ein stämmiger Opa mit Schnauzbart steht alle fünf, sechs Wochen mit seinem Enkel an der Brüstung und zeigt ihm Flugzeuge und Kräne. „Guck mal, da hinten bohren sie ein Loch, siehst du?“, fragt er schnaufend, während er den Kleinen hoch hebt. „Auto“, ruft der Zweijährige freudig, egal worauf er zeigt. „Die Baustelle ist eine Einladung zum Kommentar“, sagt Glaser: Eigentlich ist sie abgeschlossen, aber einsehbar im öffentlichen Raum, man kann das Ergebnis der Arbeit, anders als bei Büro-Tätigkeiten, meist direkt sehen und beurteilen.

„So einfach Rumlaufen, direkt an den tiefen Gruben wie damals am Potsdamer Platz, geht hier natürlich nicht“, sagt der Vater mit den drei Kindern, der schon viele Baustellen-Touren gemacht hat, achselzuckend. Ihm geht es vor allem darum, die Stadtentwicklung zu sehen. Nostalgie ist an einer Baustelle auch fehl am Platz, schließlich weist sie in die Zukunft – besonders in Schönefeld: Das „Fernglas“ auf dem Infotower des BBI vergrößert nicht etwa den Rohbau, sondern zeigt die Simulation des fertigen Flughafens, man kann per Knopfdruck aber umstellen auf das aktuelle Bild.


Erschienen in der Freitag, 2009. riegel{at}dagny.de